„Kulturelle Teilhabe ist ein Menschenrecht – doch die Gesellschaft und Politik hat versäumt, es einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Ein Grund ist, dass Inklusion – auch und vor allem im kulturellen Bereich – noch immer als kompliziert und zu kostspielig empfunden wird,“ sagt Lisette Reuter und möchte das ändern. Gemeinsam mit Akteur*innen aus dem Kultursektor baut sie ein inklusives Netzwerk auf. Von „Haus aus“ ist Lisette Reuter im Bereich von Inklusion und Kultur aufgewachsen. Sie hat Sonderpädagogik studiert, ist aber nie in den Schuldienst gegangen, weil sie die Starrheit des Bildungs- systems als eines der größten Hindernisse für eine inklusive Bildung empfand. Sie entschied sich für ein zweites Diplomstudium und landete nach der Universität im internationalen Kulturbereich, wo sie über viele Jahre europaweit Projekte zur Unterstützung von jungen Kulturschaffenden im Bereich der Darstellenden Künste entwickelte und implementierte. Mit ihrer Organisation Un-Label will sie der Politik zeigen, was möglich ist und Veränderungen im politischen System anstoßen. Wir sprachen mit ihr explizit über den Film- und Fernsehbereich im Kontext der Kunst- und Kulturbranche.
Wie ist Un-Label entstanden,
wer steckt dahinter und welchen „Service“ bietet Ihr an?
2012 hatte ich die Idee. 2013 habe ich mich mit dem Projekt selbstständig gemacht: Mein Wunsch war es, internationale Projekte für Kunstschaffende zu kreieren, die auch für Menschen mit Behinderung zugänglich sind. Gestartet haben wir mit einer interdisziplinären Produktion, bei der wir Künstler*innen aus zehn Ländern, mit und ohne Behinderung zusammengebracht haben. Das war eine Tanztheater-Produktion, die ein ziemlicher großer Erfolg war. Ab dem Moment ist Un-Label organisch gewachsen. Es folgten die ersten geförderten Projekte und Produktionen auf europäischer Ebene und inzwischen ist Un-Label ein Sozialunter- nehmen mit den Schwerpunkten Produktion, Beratung und Netzwerk.
Wie definierst Du den Begriff „Behinderung“?
Vom Gesetz her wird der Begriff „Behinderung“ mit einer Einschränkung von der üblichen Lebensweise definiert. Für mich geht das deutlich weiter. Im Englischen gibt es den Begriff „lived Experience“. Wenn man darüber nachdenkt, was eine „gelebte Erfahrung“ mit einer sogenannten Behinderung ist, können darunter auch Krankheiten wie eine Depression, Long Covid o. ä. fallen. In England identifizieren sich viele Menschen mit Stolz mit ihrer Behinderung. Das liegt daran, dass dort der Gedanke überwiegt, dass die Gesellschaft die Menschen behindert und nicht umgekehrt. Ein gutes Beispiel dafür ist, wenn es überall Rampen geben würde, dann kämen Rollstuhlfahrer*innen überall hin. Deswegen haben wir (von Un-Label) ein sehr breites Verständnis vom Begriff Behinderung. Wir arbeiten sehr inklusiv und intersektional und bringen Menschen mit und ohne Behinderungen zusammen. Im Kern wollen wir einfach ganz unterschiedliche „Menschen“ mit vielfältigen Lebenserfahrungen zusammenbringen. Wir haben in Deutschland einen so engen Blick auf den Begriff „Behinderung“. Hier möchte ich mit Un-Label etwas mehr Sensibilisierung und Weitblick schaffen. Besonders in einem so leistungsorientierten System wie der Kunstbranche. Auch und vor allem im Theater und Tanzbereich, wo kaum jemand offen mit seiner Behinderung umgeht. Wir müssen da komplett umdenken, gerade in Bezug auf den Begriff der Professionalität. Da habe ich so oft zu hören bekommen, dass Künstler*innen mit Behinderungen nicht professionell wären. Was Unsinn ist, denn man braucht eine wahnsinnige Hingabe und Ehrgeiz für einen künstlerischen Werdegang. Gerade, wenn man eine Behinderung hat, da der Zugang eben nicht selbstverständlich gegeben ist.
Seit 2021 seid Ihr mit dem Projekt „United Inclusion“ an den Start gegangen und habt Euch die Frage gestellt, wie Kunst- und Kulturförderung die künstlerische Aktivität und Teilhabe von Menschen mit Behinderung effektiv befördern kann. Wie entstand die Idee/das Bedürfnis dazu?
„United Inclusion“ ist aus der jahrelangen Arbeit und Erfahrung mit Kulturförder*innen entstanden. Der Hebel „Kulturförderung“ und die damit einhergehenden Anträge sind das wichtigste Tool, um Kunst und Kultur für alle Menschen mit und ohne Behinderung zugänglich zu machen. Inklusion und Barrierefreiheit ist ein Menschenrecht. Aber viele halten sich nicht daran, also haben wir bei den Kulturförderinnen und Kulturförderern angefangen, sie für das Thema zu sensibilisieren. Auch bei denen selbst herrscht ein großes Unwissen. Durch die Neustart-Kultur-Gelder konnten endlich auch Projekte beantragt werden wie eben „United Inclusion“, die das Ziel haben, systemverändernd zu wirken. Wir sind online mit verschiedenen Entscheider*innen aus der bundesweiten Kulturförderlandschaft mit Dialogveranstaltungen gestartet. Hier haben wir uns bestimmte Genres und Fach- bereiche angesehen. Menschen mit Behinderungen und inklusiv agierende Kuturexpert*innen haben die Kulturförderinnen und Kulturförderer beraten, wie die Kultur- landschaft und Fördersysteme inklusiver werden könnten.
Inwieweit ist in der gleichnamigen Publikation „United Inclusion“ auch der Film- und Fernsehbereich mit transferierbar?
Die Publikation, die wir bei „United Inclusion“ veröffentlicht haben, gilt erst mal allgemein für alle Kunst- und Kulturbereiche. Dort geht es darum, Handlungsempfehlungen auszusprechen, die Fördersysteme schaffen, die inklusive und barrierefreie Arbeit einfacher machen. Viele Dinge sind tatsächlich spartenübergreifend anwendbar. In diesem Jahr haben wir uns aber auch im Detail die unterschiedlichen Kulturbereiche angeschaut. Wir sind im Kontakt und Austausch mit Entscheider*innen und Film- förderungsanstalten. Hierzu werden dann Ende des Jahres oder Anfang des kommenden Jahres spezielle Handlungs- empfehlungen publiziert.
Was waren die Kernpunkte im Filmförderungsbereich?
Filmfestivals müssen zum Beispiel barrierefreier werden, was mit großen Kosten einhergeht, denn Gebärdensprach- dolmetscher*innen und Audiodeskriptor*innen müssen angemessen bezahlt werden. Dafür müssen mehr Verpflichtungen in Form von klaren Gesetzen und Rahmenbedingungen durch die Politik ausgesprochen werden. Politik und Verwaltung müssen dann natürlich mehr Gelder für Barrierefreiheit zur Verfügung stellen. Im Theaterbereich ist es noch mal ganz anders. Ich bekomme zum Beispiel für eine Theaterproduktion 50.000 Euro Budget. Wenn ich eine Produktion barrierefrei und inklusiv gestalten möchte mit Künstler*innen mit Behinderung, kann schon mal gut die Hälfte dieser Gelder für Barrierefreiheit drauf- gehen. Jeder andere Akteur*in, der nicht inklusiv arbeitet, hat die vollen 50.000 Euro zur Verfügung. Hier entsteht also ein enormes Ungleichgewicht. Auch sind sich viele Förderinnen und Förderer der Kosten für eine barrierefreie Produktion nicht bewusst. Da muss noch eine größere Wissens- und Vermittlungsarbeit stattfinden – im Theater wie im Film- und Fernsehbereich.
Hättest Du konkrete Finanzierungsideen?
Die Gelder für Inklusion sind prinzipiell da, aber sie liegen in den falschen Ministerien. Wir haben ein sehr kompliziertes System in Deutschland dadurch, dass Kultur Ländersache ist – im Gegensatz zu England, wo es einen zentralen Topf gibt. Die großen Gelder für Inklusion liegen nicht bei den Kulturministerien, wo aber auch große Summen für den Bereich zur Verfügung gestellt werden müssten. Eine andere Lösung wäre, ministeriumsübergreifend zu agieren – leider spielt hier die Bürokratie nicht mit. Außerdem wäre ein Kultur-Barrierefreiheits-Fond sinnvoll, für jedes Bundesland, über den man Bedarfe für Inklusion und Barrierefreiheit beantragen kann. Es fehlt einfach an Flexibilität, und das ist das größte Problem. Die Politik ist in der Verantwortung, genauso wie die Akteur*innen aus der Branche, die in die Kommunikation und Handlung gehen müssten.
Sind sogenannte Checklisten sinnvoll?
Inklusion und Barrierefreiheit sind nicht durch Checklisten herzustellen und abzuarbeiten, da die Notwendigkeiten und Bedarfe wahnsinnig unterschiedlich sind. Aber es gibt natürlich Richtlinien und Handlungsempfehlungen, da haben wir auch schon viele von veröffentlicht. Zum Beispiel ein Methoden- handbuch, wie man kreativ, inklusiv in der darstellenden Kunst arbeiten kann. Unsere veröffentlichten Tools sind in Zusammenarbeit mit der TU-Dortmund wissenschaftlich evaluiert. Man kann auch einfach in Länder wie England schauen, die deutlich weiter sind und wo es viele Veröffentlichungen gibt, die einem weiterhelfen können. Aber am Ende des Tages muss man einfach machen, springen und offen für Neues sein, da braucht man nicht noch die fünfzigste Checkliste.
Laut Gesetz muss jede staatliche Schauspielschule einen Inklusionsbeauftragt*innen haben.
Die Realität sieht anders aus. Warum ist das so?
Ausbildung ist ein sehr komplizierter Punkt, bei dem es sich lohnt anzusetzen. Bei den Hochschulen für Musik ist man zum Beispiel deutlich weiter: Da heißt es, dass es in Ordnung ist, wenn man aufgrund seiner Behinderung nur ein Instrument spielen kann – „normalerweise“ sind es zwei. Es gab vor nicht allzu langer Zeit eine Umfrage für die künstlerischen Hochschulen in Bezug auf Barrierefreiheit und Inklusion. Die Hochschulen haben sehr allgemein geantwortet. Fachbereiche wurden nicht getrennt voneinander befragt und das Ergebnis liest sich am Ende deutlich positiver, als die Realität wirklich ist. Man muss hier sehr kritisch hinterfragen: Wer hat diese Studie durchgeführt, mit wie viel Geld, wie war der Rücklauf und waren Menschen mit Behinderung beteiligt? Meiner Meinung nach wurde das Ziel dieser Studie ziemlich verfehlt. Die künstlerische Ausbildung ist Grundlage für die spätere Berufslaufbahn und Karrierechancen. Also muss man natürlich anfangen, die Hochschulen barrierefrei zu machen und Inklusion muss Leitbild jeder staatlichen Ausbildungsinstitution werden. Das bedarf viel Arbeit und Zeit, sonst bleibt es ein ewiges Nebeneinander statt ein Miteinander.
Stichwort Politik: Gibt es hier einen länderübergreifenden strukturellen Ansatz?
Oder anders gefragt, was wäre wünschenswert?
Es wäre wünschenswert, dass es Richtlinien gibt, die für alle Bundesländer gelten – vereinbarte Gesetze für Inklusion, Barrierefreiheit, aber auch für Mindestgagen für Künstler*innen. Bei dem jetzigen Chaos zwischen Bund, Ländern und Kommunen hat keiner etwas davon. Es hat natürlich seine historische Berechtigung, dass Kultur nicht zentral gesteuert wird, aber ich persönlich glaube, dass sich unsere Gesellschaft so verändert und weiterentwickelt hat, dass wir alles mehr zentralisieren und dadurch vereinfachen könnten. Dies würde am Ende zu mehr Gerechtigkeit und auch zu mehr Ressourcen führen, von denen wir alle profitieren würden.
© Un-Label | The Powerof Arts © Anna Spindelndreier |
Am 4. Oktober hast Du am „Creative Europe Innovation Day“ teilgenommen, der auch von Creative Europe gefördert wurde. Dort hast Du Deine Arbeit vorgestellt. Magst Du mal einen Einblick geben?
Die europäische Arbeit ist mir wahnsinnig wichtig, weil sie das Fundament von Un-Label bildet. Ich bin davon überzeugt, dass wir alle in den länderübergreifenden Austausch gehen sollten. Der „Creative Europe Innovation Day“ lädt Projekte ein, die Innovation auf europäischer Ebene voranbringen, und ich habe dort über das Verfahren „Aesthetics of Access“ gesprochen. Wenn wir als Un-Label Kunst produzieren, dann geht es immer darum, wie wir das Werk künstlerisch barrierefrei gestalten. Mittel der Barrierefreiheit werden bei „Aesthetics of Access“ so zu künstlerisch-ästhetischen Elementen. Also kein Add-On oder eine Übersetzung. Barrierefreiheit wird vom ersten Moment an mitgedacht, schon bevor man im Proberaum steht. Dieses Verfahren ist ein wahnsinnig spannendes Experimentierfeld, bei dem wir erst ganz am Anfang stehen. Es kann stetig ausgebaut werden, da es die Kunst unendlich bereichert.
Nehmen wir mal folgenden „Fall“ an: Ein*e Schauspieler*in mit einer Behinderung spielt eine durch- gehende Rolle in einer Serie und benötigt Assistenzbedarf. Wer übernimmt die Kosten?
Ich betreute einen tauben Tänzer. Ich habe zehn (!) Monate darum gekämpft, dass er eine Arbeitsassistenz bekommt. Er musste aber dafür fest angestellt werden, was kaum ein*e Künstler*in in Deutschland ist, um diese Arbeitsassistenz bewilligt zu bekommen. Es ist ein riesiger Wust an Bürokratie, der sehr künstler*innen- unfreundlich ist: Man muss ein Jahr vorher einen Antrag stellen und sagen, wie viel man im kommenden Jahr arbeitet und welche Bedarfe man an Assistenz hat. Was absurd ist, denn wer weiß denn schon als freischaffende*r Künstler*in, wie und wann man genau im Folgejahr arbeitet?
Was wünschst Du Dir für die Kultur- und für die Filmbranche?
Die Bereitschaft zur Selbstkritik, sich zu öffnen und auf Qualität zu achten, die eine Gesellschaft benötigt – weg von Leistung und Bürokratie hin zu mehr Diversität, die uns alle in der Kulturbranche bereichert.
Wie viel Zeit verbringst Du mit Bürokratie – wie viel mit Deiner kreativen Arbeit?
80 Prozent zu 20 Prozent.
Behindertenwerkstätten: Fluch oder Segen?
Absoluter Fluch. Moderne Sklaverei.
Auf einer Skala 1–10 – wie inklusiv ist hier Deutschland?
Vier.
Was steht 2023 auf der Agenda von Un-Label? Und was 2030?
2023 steht im Schwerpunkt die Weiterführung unseres großen Modellprojekts „Access Maker“ an plus eine neue Theaterproduktion. Außerdem muss ich ein Modell finden, dass ich Un-Label unabhängig von zeitlich begrenzten Projekt-Fördergeldern nachhaltig weitermachen kann. 2030 hoffe ich, dass sich die Prozentzahl zwischen Bürokratie und kreativer Arbeit gedreht haben wird, gesicherte Förderung gefunden ist und ich die Arbeit zusammen mit einem tollen, festen Team machen kann.
In den Unlabel-Projekten ist Inklusion kein Add on, sondern wird mit dem Aesthetics-of-Access-Ansatz von Anfang mitgedacht. Inwieweit lässt sich dieser Ansatz für Filmprojekte adaptieren?
Auch im Filmbereich lässt sich der Aesthetics-of-Access-Ansatz natürlich übertragen, steckt aber auch hier genauso wie im Tanz- und Theaterbereich in den Kinderschuhen und es fehlt der Raum zum Experimentieren und Ausprobieren. Ein gutes Beispiel ist aber der Kurzfilm „Der beste Weg" von Angelika Herta (Deutschland 2014) oder auch der animierte Trailer in Deutscher Gebärdensprache vom RoboLAB Festival 2022 (https://vimeo.com/737187002/e07866c1da). Diese zeigen deutlich die kreativen Möglichkeiten, die das Verfahren Aesthetics of Access auch für den Film bereit hält.
www.un-label.eu | www.un-label.eu/wp-content/uploads/United-Inclusion-Doku.pdf
Aesthetics of Access - Inclusion in Performing Arts
www.vimeo.com/trailer-gravity
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