Die Film- und Medienbranche lebt von Kreativität, neuen Blickwinkeln und unkonventionellen Ideen. Doch viele dieser wertvollen Impulse stammen von Menschen, deren Arbeits- und Denkweisen unter dem Begriff Neurodivergenz zusammengefasst werden und deren Potenzial noch viel zu oft übersehen wird.
Es bedeutet, dass das Gehirn auf eine Weise funktioniert, die von der gesellschaftlich als „typisch“ geltenden Norm abweicht. Dazu gehören zum Beispiel Autismus, ADHS, Legasthenie, Hochsensibilität oder Tourette-Syndrom.
Der Begriff ist nicht wertend, sondern beschreibt Vielfalt: so wie es unterschiedliche Persönlichkeiten gibt, gibt es auch unterschiedliche Arten zu denken, wahrzunehmen und zu arbeiten.
Der Fotograf, Filmemacher und Aktivist Daniel Dornhöfer hat im Rahmen einer Umfrage Stimmen neurodivergenter Filmschaffender gesammelt. Das folgende Interview beleuchtet seine persönlichen Eindrücke, die größten Herausforderungen, aber auch die Chancen, die in einer inklusiveren und neurodivergenzfreundlichen Branche liegen.
Dabei wird deutlich: Mehr Offenheit, Verständnis und strukturelle Unterstützung könnten nicht nur Barrieren abbauen, sondern auch die kreative Kraft der gesamten Branche bereichern.
Was hat Dich persönlich an den Rückmeldungen und Ergebnissen Deiner Umfrage am meisten überrascht oder bewegt?
Am meisten berührten mich die persönlichen Erfahrungen, über die die Teilnehmenden offen geredet haben, die sie im Arbeitskontext mit dem Umgang der Neurodivergenz gemacht haben. Viele gehen offen mit ihrer Diagnose um und kommunizieren es gegenüber dem Team, dass sie neurodivergent sind und haben da auch positive Erfahrungen gemacht. Leider ist aber auch von vielen zu lesen, dass sie nicht ernst genommen werden und mit Stigma und Vorurteilen konfrontiert werden.
Welche konkreten Veränderungen wünschst Du Dir – kurzfristig und langfristig – von der Branche im Umgang mit neurodivergenten Filmschaffenden?
Dazu haben sich einige Teilnehmende in der Umfrage geäußert, denen ich an dieser Stelle gerne Raum geben und die ich zitieren möchte:
„Ich wünsche mir einfach, dass wir generell respektvoll miteinander umgehen. Jeder Mensch hat individuelle Bedürfnisse und es würde uns allen helfen, achtsam miteinander umzugehen. Gerade in unserer Branche müssten wir alle für einen geschützten Raum sorgen. Denn erst dann kann wirklich kreativ und mutig gearbeitet werden.“
„Ein Mentoring Programm für ND-Filmschaffende wäre so toll. Ich struggle gerade selber damit, überhaupt noch weiter in der Industrie zu arbeiten, obwohl ich gerade Master studiere …“
„Wünsche mir definitiv unabhängige (!) Ansprechpartner*innen für Diversität und Inklusion in Produktionen, egal welcher Größe. Diese Position muss zum Wohle für (ND) Crewmitglieder besetzt werden und nicht für Regie/Produktion und sollte daher keine private Verbindung zueinander haben, da es meiner Erfahrung nach IMMER Probleme gibt und wir (Neurodivergente) den kürzeren ziehen. Insgesamt brauchen wir mehr Sicherheit und Rechte gegen Diskriminierung.“
Ich kann mich den Wünschen an dieser Stelle nur anschließen. Es ist schon eine große Hilfe und Erleichterung für uns, wenn wir akzeptiert, respektiert, gesehen und gehört werden. Auch wenn es für einen selbst vielleicht nicht ganz verständlich oder greifbar ist, womit wir jeden Tag zu kämpfen haben, so ist es trotzdem real. Und je mehr Energie (bzw. im ND Sprech: Löffel) wir dafür aufbringen müssen, uns zu maskieren, anzupassen, irgendwie zu funktionieren, desto weniger bleibt uns für andere Bereiche wie z. B. die Kreativarbeit. Da kann jede Person in der Branche ihren Teil beitragen, ohne großen Zeit oder Geldaufwand. Es würde schon reichen, sich nebenher einen der vielen Podcasts von neurodivergenten Menschen anzuhören, zuzuhören.
Auf Filmfestivals und Networking Events könnte es Angebote und Konzepte geben, speziell für neurodivergente Filmschaffende, z. B. Ansprechpartner in den Teams, „Stille“ Veranstaltungen, Infoveranstaltungen, geführte strukturierte Networking Events.
Produktionsfirmen und Produzent*innen könnten bei der Vorbereitung eines Drehs direkt kommunizieren, dass sie neurodivergente Crew und Castmember einen Safe Space bieten möchten und mit den Betroffenen gerne besprechen würden, was sie brauchen. Man könnte z. B. beim Warm-Up neben der Frage nach Ersthelfern auch die Frage nach neurodivergenten Personen stellen und ob diese als Ansprechperson zur Verfügung stehen möchten. Das setzt ein Zeichen und schafft Vertrauen gegenüber jenen, die ihre Diagnose (noch) nicht öffentlich gemacht haben.
Die Head Ofs, die neurodivergente Personen in ihren Departments haben, könnten mit ihnen besprechen, wo deren Stärken liegen und diese fördern und mit einbinden. Kreatives Denken, visuelles Denken, Detailgenauigkeit – diese Eigenschaften wurden von 66 bis 75 Prozent der Teilnehmenden in der Umfrage als persönliche Stärke angegeben. Förderanstalten und Institutionen könnten auf unsere Bedürfnisse angepasste Programme & Konzepte anbieten.
Wie lässt sich Deiner Meinung nach das Bewusstsein für neurodivergente Perspektiven und Bedürfnisse in bestehenden Teams am besten stärken?
Meine Therapeutin sagte zu mir mal, als ich aufgrund der Depression und des Burnouts den Kontakt zu meiner Kreativität verloren hatte: „Sehen Sie sich, wie einen Garten. Wenn Sie Schmetterlinge in ihrem Garten haben möchten, müssen Sie erst mal für ein passendes Umfeld sorgen.“
Für den Anfang sollte sich jede Person erstmal bewusst werden, dass wir schon immer ein Teil der Gesellschaft und vor allem auch ein Teil der Filmbranche waren und sind. Es wird fast immer mindestens eine Person im Team geben, die neurodivergent ist. Wenn sie öffentlich damit umgeht, bietet das die Möglichkeit für den Dialog. In dem Fall, schnappt Euch die Person und fragt sie, was sie braucht, was sie sich wünscht, was man optimieren könnte, um die Zusammenarbeit zu erleichtern.
Bietet einen Safe Space, kommuniziert, dass ihr das Thema und die Menschen ernst nehmt. Schafft Vertrauen, nehmt Euch Zeit, Euch mit den neurodivergenten Kollegis zu unterhalten, auszutauschen, Raum für deren Perspektive geben. Arbeitet mit gewaltfreier Kommunikation und konstruktivem Feedback, statt einfachem kritisieren. Gerade Kritik ist für uns wie Kryptonit, da gerade Menschen im ADHS-Spektrum aufgrund der neurologischen Prozesse und negativen Erfahrungen sehr anfällig für Kritik sind und diese auch sehr intensiv wahrnehmen.
Vermeidet Schuldzuweisungen oder Vorwürfe. Hört zu, wenn wir uns versuchen zu erklären und habt Verständnis, dass uns manche Sachen nicht so einfach fallen, wie sie euch fallen. Bezieht sie mit in die Planung von Prozessen ein, in denen sie involviert sind und seid offen für deren Ideen oder Ansätze, auch wenn sie für Euch im ersten Moment keinen Sinn ergeben (Uns gehts umgekehrt oft genauso).
Was sind die größten Hürden für neurodivergente Kolleg*innen im Arbeitsalltag – und wo könnten einfache Lösungen bereits viel bewirken?
Für die meisten ist die Reizüberflutung, das Networken und die Kommunikation bzw. unklare Ansagen eine Hürde. Natürlich ist der Part mit der Reizüberflutung beim Filmdreh so ne Sache, die sich schwer vermeiden lässt. Da könnte ein Lösungsansatz sein, darauf zu achten das neurodivergente Personen einen ruhigen Rückzugsort zur Verfügung bekommen oder zumindest Rücksicht darauf genommen wird, wenn die Person kommuniziert, dass sie gerade eine Auszeit braucht.
Man könnte zum Beispiel in der Dispo oder sonstigen Dokumenten markieren, wann an dem Drehtag mit lauten Geräuschen oder intensiveren Lichtaufbauten gearbeitet wird oder ob an der Drehlocation damit zu rechnen ist. (z. B. viel befahrene Hauptstraße, Gebiete mit Rettungswache in der Nähe, Orte, an denen mit vielen Menschen zu rechnen ist, etc.
Was die Kommunikation angeht, sind die grundlegenden Probleme, die mangelnde Zeit und der Druck, der mittlerweile auf einem Produktionsteam lastet. Wir sind alle nur Menschen, Menschen, die mit Druck auf die unterschiedlichste Art umgehen. Vor allem am Set. Da ist es vollkommen nachvollziehbar, dass früher oder später auch der Umgangston darunter leidet oder auch nicht immer die Zeit oder der Nerv da sind, alles ausführlich zu erklären oder einzuordnen. Das führt bei neurotypischen Personen regelmäßig zu Missverständnissen oder Konflikten. Auch hier sehe ich eine offene Kommunikation im Voraus als Ansatzpunkt. Sprecht bei Euren Departments an, dass ihr neurodivergent seid, wo ihr Einschränkungen habt, welche Art von Kommunikation ihr braucht. Sensibilisiert Eure Kollegis. Nicht jede Person wird Verständnis dafür haben, aber es wird genug geben, die es haben und auch bereit sind, darauf Rücksicht zu nehmen. Grundlegend, fragt die neurodivergenten Kollegis, die ihr in Eurem Team habt, was sie brauchen und besprecht zusammen, wie sich das für die Arbeitsabläufe der jeweiligen Departments umsetzen lassen.
Gibt es aus Deiner Sicht Filmproduktionen oder Arbeitskontexte, die bereits besonders inklusiv oder unterstützend für neurodivergente Menschen agieren? Falls ja: Was wird dort anders gemacht?
In Deutschland ist mir bis jetzt keine bekannt, was aber nicht ausschließt, dass es welche gibt. International sieht es besser aus. Da gab es jetzt einige Produktionen, wie „As we see it“, „Everything is gonna be ok“, „Heartbreak High“ und „Atypical“, bei denen Neurodivergente im Hauptcast sowie auch der Crew waren und Prozesse dementsprechend angepasst wurden. Dort wurden neurodivergente Personen im Writing Room mit einbezogen, Casting und Dreh-Abläufe wurden soweit umstrukturiert, dass sie reizarm waren, die Kommunikationsstrukturen wurden angepasst, es wurden Rückzugsräume zur Verfügung gestellt und mit planbaren Routinen gearbeitet.
In Großbritannien gibt es die Rolle des „Access Coordinator“ , die unter anderem dafür zuständig ist ND-Bedürfnisse zu vertreten und abzudecken. Zudem verfolgen sie dort eine Null-Toleranz-Politik bzgl. Ableismus.
Sichtbarkeit ist ein zentrales Thema.
Welche Chancen und Risiken siehst Du beim offenen Umgang mit einer Diagnose in der Branche?
Als Risiko definitiv die Stigmatisierung und Gaslighting. Viele haben die Sorge, dass sie und ihre Bedürfnisse nicht ernst genommen oder ausgenutzt werden. Zudem machen sich viele auch Sorgen wegen der Versicherung (Damit hab ich mich persönlich noch nicht auseinandergesetzt.)
Von den Chancen her sehe ich Sensibilisierung, Akzeptanz, Support und Wachstum. Die meisten der Teilnehmenden, sowie auch ich, haben durchweg positive Erfahrungen im öffentlichen Umgang mit der Diagnose gemacht. Zudem ist es einfach schön zu sehen, wenn Kollegis am Set ebenfalls offen damit umgehen und man nicht alleine ist. Außerdem führt es zu einem weiteren Erfahrungsaustausch, der uns gegenseitig helfen kann.
Welche Rolle spielen Netzwerk- und Förderstrukturen, um Teilhabe und Sichtbarkeit zu verbessern?
Gibt es hier aktuelle Ansätze, die Du empfehlen würdest?
Eine sehr große! Allein schon, weil sie über eine branchenweite Reichweite verfügen und gesehen werden. Daher ist es wichtig und notwendig, dass die Netzwerk- und Förderinstitutionen sich des Themas annehmen und anfangen, dahingehend Strukturen zu etablieren. Da könnte man z. B. neurodivergente Personen mit in die Jurys nehmen. Eine Online Plattform schaffen, in der sich ND- und NT-Filmschaffende connecten können. Mentoring Programme mit neurodivergenten Filmschaffenden, die andere supporten und unterstützen. Ein Kontingent an Fördergeldern für neurodivergente Stoffe oder Personal, das am Set als Ansprechperson in beratender Funktion aktiv ist.
In Deiner Auswertung wird vielfach das Potenzial neurodivergenter Kreativer betont.
Wo glaubst Du, schöpft die Branche dieses Potenzial aus und wo wird es noch übersehen?
Ich glaube, um das Potential wirklich bewusst schöpfen zu können, muss erst mal das Bewusstsein, die Zuordnung und der Platz für uns da sein. Die Branche schöpft ja nicht mal das allgemeine Potential aus, das sie und die Menschen haben. Da müsste ein grundlegendes Umdenken im System passieren und Strukturen aufgebrochen werden. Natürlich profitiert die Branche allgemein schon auch vom Input und der kreativen Arbeit von neurodivergenten Filmschaffenden, aber bei weitem nicht so, wie es möglich sein könnte.
Viele Ideen, Stoffe oder sonstige Ansätze, werden im Keim erstickt. Es gibt eine sehr talentierte neurodivergente Regisseurin, die an einer Serie mit dem Thema arbeitet, aber bisher keine Chance bekommen hat, diese im größeren Rahmen zu produzieren. Und das, obwohl das Thema immer präsenter wird.
Von daher würde ich eher sagen, dass es aktuell weitestgehend noch übersehen wird und auch der Mut fehlt, Ideen oder Ansätze zu verfolgen. Wir denken „Out of the Box“, und das ist für viele Menschen nicht so greifbar. Egal in welchem Bereich/Department – wir sind konfrontiert mit Strukturen, die uns und unsere Arbeit einschränken. „Das haben wir schon immer so gemacht“ ist, glaube ich eine Aussage, die jede*r von uns irgendwie in irgendeiner Art und Weise schon gehört hat, als man Vorschläge oder Ideen einbringen wollte. Und das ist einfach schade. Das ist nicht nur frustrierend, sondern füttert auch unsere Selbstzweifel, von denen wir so schon mehr als genug haben, und führt dazu, dass sich der Glaubenssatz festigt, dass es eh keinen Sinn macht, sich und seine Ideen einzubringen.
Was brauchst Du selbst, um Dich weiter für mehr Inklusion und Sichtbarkeit stark machen zu können?
Wo wünschst Du dir konkrete Unterstützung?
Helfende Hände und Progress. Mir ist das Thema sehr wichtig, aber leider habe ich nicht die nötigen Kapazitäten, um diesen Stein alleine ins Rollen zu bringen. Dafür bräuchte es allein schon vom Social-Media-Auftritt eine Frequenz, die ich nicht stemmen kann. Für mich ist das ein schmaler Grat, nicht an den Punkt zu kommen, an dem ich mich mit dem Projekt überfordert fühle und dicht mache. Ich wünschte, es wäre anders, dann wären mein Leben und mein Alltag auch um einiges entspannter und produktiver.
Jede Person, die auf dem Instagram Account mit den Beiträgen interagiert, sie teilt, davon erzählt, wäre schon eine große Hilfe, um die Sichtbarkeit weiter aufzubauen und auf das Projekt aufmerksam zu machen. Personen, die den Social Media Auftritt mit betreuen, Personen, deren stärke Kommunikation und Socializing ist, um z. B. auf Events Vorträge o.ä. zu dem Thema zu halten. Produzent*innen, die offen für Pilotprojekte sind, was Konzepte und Strukturen für die Inklusion am Set etc. betrifft. Gleiches gilt auch für Veranstalter*innen.
Personen, die Erfahrung mit Agenturarbeit haben (Operativ, Akquise etc.), da ich an einem Konzept für eine Agentur für neurodivergente Filmschaffende und Schauspielende arbeite, die zudem auch aufklären, beraten und die Bedürfnisse neurodivergenter Personen am Set vertreten soll. Jede Person, die sich engagieren möchte, ist herzlich willkommen.
Wenn Du einen Wunsch an Politik, Förderinstitutionen oder Produktionsfirmen adressieren könntest:
Was müsste sich am dringendsten ändern?
Das Budget und Zeitmanagement. Die momentane Situation in der Branche ist einfach nicht mehr tragbar. Sie belastet, frustriert und verfeuert die Filmschaffenden. Mangelndes Budget und Zeit, nehemn den Raum für Fortschritt und Veränderung sowie auch die Motivation, in der Branche zu arbeiten und zu investieren. Es wird Zeit, den Druck auf die Entscheidung tragenden Personen umzukehren. Es kann nicht sein, dass hohe Positionen bei den Sendern Unsummen an Gehalt bekommen, während die Crew um jeden Cent der Gage kämpft und Produktionen immer weniger Drehtage zur Verfügung haben. Wie soll ein großer Platz für Entwicklung sein, wenn alle nur mit Überleben beschäftigt sind?
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